Mitgefühl/ Karuna    

Zen ist direkt und lehnt jede Dogmatik ab, so bleiben Gott- der im Buddhismus nicht vorkommt, da keine theistische Religion- Wiedergeburt, Tod, Mitgefühl und sonstige brisante Themen, die viele wenn nicht die meisten Schüler innerlich umtreiben, zunächst außen vor. Das heißt, dem Schüler werden keine Dogmen oder feste Lehrmeinungen übergestülpt, aufgezwungen wie z. B. in der katholischen Kirche den jungen Priester-Anwärtern der Zölibat- sondern der Novize macht seine eigenen Erfahrungen, die oft sehr lange dauern können, weil ja jeder Mensch verschieden ist und der eine schneller lernt, der andere viel länger braucht.

Dafür ist die gewachsene Erkenntnis dauerhaft und durch nichts zu erschüttern. Zwar gibt es auch im Buddhismus das Gebot eines sittlichen Lebenswandels für Mönche, aber Laien halten sich individuell daran entsprechend ihres derzeitigen Bewußtseinsstandes. Dabei wissen sie wohl um das Karma-Prinzip und sind bemüht, durch ihr Verhalten wenigstens niemandem zu schaden. Und werden sie später Mönch auf Zeit oder für immer, wissen sie genau, ob sie das asketisch durchhalten können und sie wollen es dann fest aus ihrem Inneren heraus.

So wurde der von mir hochgeschätzte japanische Zen-Meister Taisen Deshimaru Roshi erst sehr spät vom bekannten Kodo Sawaki als Mönch ordiniert und dessen Dharmanachfolger- seine erste Lebenshälfte hatte er als Familienvater und Geschäftsmann verbracht und Zen als Laie geübt- was sehr schwer ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Denn man ist permanent mit den Versuchungen, dem verlockenden Leben in unserer Wohlstandsgesellschaft konfrontiert und muß einen sehr schwierigen Spagat ausführen. Und der deutsche Abt Muho vom Tempel Antaiji in Japan ist verheiratet und Vater- was ebenfalls sehr schwer ist nach seinem eigenen Bekunden, will er beiden Seiten gerecht werden.

Viele junge Männer kommen über den Umweg der Kampfkunst mit dem Zen-Buddhismus in Berührung, das Shaolinkloster in China ist weltweit bekannt. So auch ich- und ich bemerkte bald, daß mir die Kampfkunst nicht die essentielle Frage meines Lebens beantworten geschweige denn lösen konnte, nämlich wer " Ich " wirklich bin. Und Frieden finden konnte ich dadurch auch nicht, weder mit mir noch meiner Umwelt. Zwar soll ein Kampfkunst-Meister erkennen, daß der beste Kampf der ist, den man nicht kämpft. Doch diese spirituelle Seite wird heute zulasten des Wettkampfgedankens etwas vernachlässigt- nicht in allen Dojos und Kampfkunstarten, doch in den meisten. Und diese Erkenntnis vermittelt Zen sehr radikaler und direkter.

Als ich während einer Lauf-Trainingseinheit an einer Wiese vorbeikam, die sich längs der Straße hinzog, kam mir plötzlich in den Sinn, daß die einzelnen Halme vergleichbar mit Menschen sind: Jeder individuell einzigartig, alle haben ein ähnliches Schicksal- wenn der Landwirt mäht, sterben sie alle früher oder später. Sie erfahren ähnliches Leid wie Menschen, wenn sie die Kühe oder Wildschweine zertrampeln. Und sie freuen sich über den Regen, der sie am Leben erhält, die Wärme der Sonne. Da überkam mich das Gefühl, mit allen Menschen, ja Lebewesen eins zu sein- haben wir doch alle ein ähnliches Schicksal: Geboren werden, leben mit Freude und Leid, begehren, hassen, lieben und am Schluß vergehen. Da spürte ich sehr viel Liebe und Mitgefühl mit allen Menschen.  

Da hatte ich nun das Mitgefühl ( Karuna ) selbst erfahren, selbst erkannt, genauso wie daraus folgend Metta ( liebende Güte ). Und dadurch bleibend in mir verankert. Und ab da versuchte ich, dieses Bestreben täglich so gut es ging umzusetzen. Karuna bedeutet also Mitgefühl, aber nicht im Sinne von Mitleid, sondern tätige Liebe und Erbarmen und Mitgefühl. Voraussetzung ist die Erkenntnis der Einheit allen Lebens, besser noch die Erfahrung sprich Erleuchtung.  

So kann man dann auf eine Beleidigung entweder gar nicht reagieren und schweigen- weil man emotional nicht mehr berührt wird- oder aber wenn Wut aufsteigt, adäquat reagieren. Denn es ist keineswegs der Sinn von Zen, Gefühlsroboter zu züchten, sondern man muß seine Emotionen schon ausleben, um authentisch zu sein- aber eben sich nicht von ihnen beherrschen lassen, sie durchschauen und wenn dann angemessen reagieren.

Und wenn man dann aus Mitgefühl einem Menschen helfen will, muß  man aber auch erkennen, wo das gerade nicht geht. Mancher Leidende will sich einfach nicht helfen lassen, weil er zu sehr in seiner Verblendung verstrickt ist. Da muß man dann einfach loslassen, ohne Groll oder Ärger über sein Unvermögen, diesen Mensch mental zu erreichen. Aus Karuna muß man loslassen, bis dessen Leidensdruck so groß ist, das er sich helfen lässt oder selbst etwas dazu tut.

Und zum Schluß etwas sehr Wichtiges: Im Zen gilt dieses Mitgefühl nicht nur anderen Menschen und Lebewesen gegenüber, sondern in erster Linie- auch wenn es egoistisch klingen mag- sich selbst. Man ist zu sich nett und akzeptiert sich mit seinen Stärken, aber auch vor allem seinen Schwächen. Das bedeutet aber nicht, sich nicht zu fordern oder anzustrengen. Aber man geht liebevoll mit sich selbst um. 

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